The Shorter Stories
Zeitensprünge
Was, wenn für einen bestimmten Menschen in einer Zeit die Zeit gekommen ist, in einer anderen Zeit seinen Platz zu finden?
Herztropfen Teil I
Ubaldo
Ganz und gar nicht herkömmlich war dieser Fall, der im wahrsten Sinne des Wortes einer war – glaubte man den Augenzeugen. Weshalb genau der Freitod eines blutjungen Kellners, von denen es eine Unzahl in Triest gab und um dessen Posten im Tommaseo sich bestimmt sogleich hundert Andere bemühen würden, ein solches Aufsehen erregte, erschloss sich Ubaldo nicht. Eine Unbekannte habe ihn dermaßen in den Bann geschlagen, dass er von nichts und niemand anderem mehr gesprochen habe, seit sie vor Wochen erstmals aufgetaucht war. Dabei sei sie laut Giuseppe sehr auffällig gewesen, ihr Erscheinungsbild so vollkommen anders.
Die hellbraunen Locken hätten Scheitelpartie und Hinterkopf der Fremden üppig bedeckt, die seitlichen Partien hingegen hätte sie ganz kurzgeschnitten getragen. Ihre Überbekleidung sei von einem seltsamen Karomuster überzogen gewesen und sackartig an ihrem Körper gehangen. Von einem Ohr sei eine Kette mit einem silbernen Tropfen daran gebaumelt. Darüber hinaus hätte sie Hosen getragen und geschnürte Stiefel ganz ohne Absätze. Kein Korsett, keinen Hut, keine Schute, keine Krinoline. Das ergab keinerlei Sinn.
Giuseppe sei diesem Phantom nachgerannt, vorbei am Teatro Grande , den Molo San Carlo hinaus, habe „Vergeben! Nicht vergehen!“ gebrüllt. Oder auch „Kein Vergehen!“, ehe er sich wie von Sinnen ins Meer gestürzt hatte.
Emma
Emma saß auf der bronzenen Windrose am Ende des Molo Audace , die blauen Augen aufs offene Meer gerichtet. Der Wind schickte ein herbstliches Lüftchen in ihren Rücken. Sie zog den Kragen ihres hellen, karierten Wollmantels enger. Erneut musste sie schaudern. Schon im Tommaseo war trotz des Cappuccino, den sie geordert hatte, Gänsehaut über sie gekommen. Sie wurde doch hoffentlich nicht krank? Im Tommaseo hatte Emma eine Erscheinung gehabt.
…